Systematik-Taxonomie

Begonnen von dorle, 16. Mai 2010, 11:55

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dorle

Hallo Christoph,
herzlichen Dank für Deine ausführlichen Darlegungen.
Genau das war meine Intention: wie erleichtert man dem Anfänger den Einstieg. Und Deine Ausführungen spiegeln genau meine anfänglichen Schwierigkeiten.
Auch ich hatte versucht mir den Zugang primär über die Arten zu verschaffen. Wie Du schon sagst, geht das für eine bestimmte Anzahl und dann ist Schluß. Ich glaube, dass nicht wenige genau aus diesem Grund irgendwann nicht mehr weitermachen, obwohl ein großes Interesse an der faszinierenden Pilzkunde besteht.
Daher denke ich, dass Fortgeschrittene sich immer mal wieder in die Anfängersituation reinversetzen sollten und bei den Erklärungen von Arten- zumindest ab und zu- auch die Grundsätze kurz ansprechen sollten.
Dass die intensive wissenschaftliche Bearbeitung von elementarer Bedeutung ist, bedarf ja keiner Ausführungen.
Aber ich denke, dass uns Pilzliebhabern doch sehr der Nachwuchs und die Kinder, Jugend am Herzen liegen und da lohnt es sicher zu überlegen, wie kann man die an dieses fantastische Gebiet heranführen.
Also macht`s alle gut
Thomas.

Christoph

Servus Thomas,

jetzt verstehe ich Deine Intention, denke ich. Den Begriff "Systematik" im Sinne der Taxonomie lasse ich aber erstmal bewusst außen vor und ersetze ihn mit Habitustypen und Gattungen. Die Systematik definiert (nur) die Verwandtschaftsverhältnisse und ist daher nicht immer anhand der Fruchtkörper ohne weiteres nachzuvollziehen.

Möchte man mit der Pilzbestimmung beginnen und möglichst schnell große Fortschritte machen, denke ich, dass man das Kennenlernen von Arten erstmal ad acta legen sollte. Artenkenntnis gibt zwar schnelle Erfolgserlebnisse, aber es bringt den absoluten Einsteiger erstmal nicht wirklich weiter.

Wer z.B. Botanik studiert und den ersten Pflanzenbestimmungskurs mitmacht, fängt hier erstmal mit Familienmerkmalen und dem Erkennen von Familien an.

Bei Pilzen geht das leider nicht, aber man kann Fruchtkörpertypen erkennen und hier Habitus gruppen bilden.

z.B. Sprödblättler, Ritterlingsartige (im Habitussinn, also zusammen mit Cortinarien usw. - alles fleischige mit Burggraben), Rüblingsartige (im Habitussinn, also alle mit verdrehbarem, nicht brüchigem Stiel) usw.

Das heißt: man muss erstmal beobachten lernen und beispielsweise unterscheiden, ob ein Pilz ein oder zwei Vela hat (Velum partiale / Velum universale), wie der Lamellenanwachs ist, wie die Fleischkonsistenz zu bewerten ist usw.

So erlernt man die oben genannten Habitusgruppen.

Über Sporenpulverfarbe und weiteren Merkmalen kommt man dann zu den Gattungen, soweit das makroskopisch geht (ich gehe mal von makroskopisch arbeitenden Anfängern aus).

Erkennt man z.B. sicher einen Risspilz, einen Schleierling, einen Ritterling, einen Rübling usw., dann ist die Artbestimmung erleichtert (wenn auch oft nicht möglich).

Der Vorteil:
Man erlernt ein grobes Konzept, ein "privates System", in das man alle neuen Erkenntnisse und Arten einfügt. So kann man sich die Arten viel leichter merken. Man beginnt mit Null Artenkenntnis, hat aber so nach zwei Jahren, wenn man dabei bleibt, vielleicht schon 100 oder 200 Arten drauf, da man ein Jahr nur Gattungen erlernt hat. Dass der Wulstling mit dem Roten Hut, Ring (Velum partiale) und weißen Tupfen am Hut (Velum universale) ein Fliegenpilz ist, merkt man sich dann einfach besser. Man sieht einen Pilz und hat gleich ein Gefühl, wo er hingehören könnte. Dann kann man auch besser in der Literatur nachschlagen.

Aber wie erlernen die meisten die Pilze? Ihnen wird vom (von der) Vater/Mutter/Großvater/Großmutter usw. erklärt, wie man "die Marone" und "den Steinpilz" erkennt. Dann lernt man das Blaudeiberl kennen. Vielleicht noch den Zigeuner und das Reherl... macht man so weiter, muss man für jede einzelne Art zig Merkmale auswändig lernen. Nach 20 Arten ist dann meistens Schluss.
Mit "dem System" reichen oft zwei Merkmale aus, eine Art zu erkennen, da die restlichen Merkmale durch das Erkennen der Gattung abgedeckt sind. Ausnahmen kann man dann auch leichter erlernen (der Mairitterling sieht aus wie ein Ritterling, ist aber ein Schönkopf usw. - muss man dann halt dazu lernen).

Geht man in die Anatmoie und Physiologie der Pilze, steigt also sehr tief ein, dann kann auch das natürliche System, soweit bekannt, hilfreich sein. Z.B. alle Russulales sind Weißfäulepilze (auch die Symbionten haben Restenzyme) - also auch Stachelbärte, Peniophora, Schichtpilze, Bergporling, Zählinge und was noch alles in der Ordnung steckt. Zusammen mit den oft amyloiden Sporen und den oft vorhandenen Gloezystiden (gerne mit Knöpfchen an der Spitze) wird ein Bild draus, das die Ordnung umfasst. Viele schmecken scharf (Zählinge / Bergporling / Täublinge / Milchlinge)... aber auf Ordnungsniveau wirklich zu arbeiten, verlangt sehr viel Hintergrundwissen (Porusaufbau usw.).

Dein Beispiel der Dachpilzartigen zeigt, wie schnell man eine Gruppe erlernen kann. Die Scheidlingsarten und Dachpilze da hineinzuhängen, gelingt leicht. Und findest Du einen Dachpilz mit Ring (gibt es!), dann siehst Du, dass auch hier ein Velum partiale existieren kann (die beringten Arten wurden früher in eine eigene kleine Gattung gesteckt) und auch das ist dann gespeichert. Findest Du einen Dachpilz mit Ring, weißt Du schon, dass es etwas ganz besonderes ist, wovon europaweit nur wenige Fundpunkte bekannt sind. Hat man die Dachpilzartigen "drauf", vergisst man so etwas "exotisches" auch nicht mehr und ist anhand der freien Lamellen, dem mykologenrosa Sporenpulver und des ganzen Habitus (und Huthautoptik - opaque) trotz Ring, sicher, bei den Dachpilzen zu sein.

Die meisten Einsteiger wollen aber sofort Artnamen hören / lesen. Auch in den Foren. Dabei wäre es eigentlich besser, wenn sie diese Hürde erstmal weglassen und dafür zuerst die Gattungen erlernen. Das sind weniger als Arten, es geht schneller und dann kann man gut vertiefen.

Dies alles ist natürlich nur meine eigene Meinung  :D

LG
Christoph

Argentum atque aurum facile est laenamque togamque mittere, boletos mittere difficile est
(Silber und Gold, Mantel und Toga kann man leicht verschenken, schwer ist es aber, auf Pilze zu verzichten - Spruch von Martial)

dorle

Hallo Wolfgang,
danke für Deine Stellungnahme.
Da hast Du schon recht, dass letztendlich das Ergebnis zählt. Und wie jemand zu dem Ziel kommt, dem Pilz einen Namen zuzuordnen ist dann zweitrangig.
Ich könnte mir vorstellen, dass hier auch individuelle Unterschiede gegeben sind. Der eine kommt schneller mit den Gattungen zu recht, ein anderer steigt eher über die Familien ein. Sicher ist von grosser Bedeutung, wie weit der Wissens- und Kenntnisstand ist. Mit der entsprechenden Erfahrung erkennt man in vielen Fällen recht schnell zumindest die häufigsten Gattungen.
Ich bin da vielleicht etwas zu dogmatisch und daher sagt mir die überwiegend von den Franzosen verwendete "Einteilung" zu.
So unterteilen diese z.B. die Agaricales in mehrere Ordnungen. Tricholomatales, Cortinariales, Pluteales und Agaricales.
Die Pluteales sind Pilze mit +-rosa Sporenpulver und ohne Ring am Stiel.
Hier sind dann die Familien der Pluteaceae (Dachpilze) und Entolomataceae (Rötlinge).
Der völlige Anfänger weiß also relativ schnell über die ersten beiden Merkmale in welchen Familien er fündig werden dürfte ( dass es Ausnahmen gibt braucht diesen am Anfang sicherlich nicht zu stören).
Wenn er dann weiter nachschaut wird er sehen, dass die Pluteaceae im Gegensatz zu den Entolomataceae freie Lamellen haben und sich der Stiel leicht rausbrechen lässt.
Da es innerhalb der Familie nur zwei Gattungen gibt und die Volvariella bescheidet sind,  ist er ziemlich schnell bei der richtigen Gattung.
Sicherlich benötigt er relativ bald diesen Weg nicht mehr, da die Gattungskenntnis rasch zunimmt.
Ich finde es aber wichtig, sich noch in die Lage von jemand der erstmals mit der Pilzkunde in Berührung kommt zu versetzen. Und wenn man bedenkt, wie viele Gattungen es allein gibt, könnte ich mir vorstellen, dass so ein "grober" Einstieg hilfreich sein könnte.
Klar ist letztendlich jeder Schlüssel so aufgebaut, aber die grundsätzlichen Merkmale erleichtern die Sache m.E. erheblich.
Ich persönlich finde, dass ich, je weiter ich in die Pilzkunde eindringe immer mehr von einer Systematik profitiere.
Insoweit sollte ich meine Ausführungen aus dem ersten Beitrag erweitern. 
Welche Systematik ist international anerkannt- falls es das gibt und wo ist diese im Internet greifbar?
Wegen der vielen offenen Fragen bei den Arten und da vieles in Bewegung ist kann es kein endgültiges System geben, aber ein zur Zeit gültiges?
Ist jetzt etwas lang geworden und auch nicht so ganz ausgereift, aber vielleicht könnte es eine Diskussion anregen.
Thomas.

Wolfgang D.

Hallo Thomas,
ich denke, für einen Neueinsteiger ist es primär wesentlich, die unterschiedlichen Formen einigermaßen den Großgruppen zuordnen zu können. Ganz "oben" spielen unterschiedliche Auffassungen der Systematiker in diesem Zusammenhang ja kaum eine Rolle. Innerhalb der Großgruppen weiß ich nicht, wie bedeutsam es wirklich ist, das System der Familien mit ihren Merkmalen zu kennen, denen traditionell ein großer Stellenwert gegeben wird (auf Fundlisten und Etiketten wird neben dem Artnamen oft die Familie mit angegeben). In einigen Fällen kann das einem Neueinsteiger bei der Pilzbestimmung natürlich hilfreich sein. Aber viel nützlicher für die Artenkenntnis finde ich, dass man eine Vorstellung für die wichtigen, artenreichen und häufigen Gattungen entwickelt und einen gefundenen Pilz grob einem "Gattungstyp" zuordnen kann. Da ist es vorläufig sicher egal, ob diese Art dann nach dem aktuellsten Stand eine Tricholomataceae, Marasmiaceae oder Omphalotaceae ist ...
Ich hoffe, dass ich deine Frage einigermaßen richtig verstanden habe.
LG
Wolfgang

dorle

Hallo zusammen,
als ich anfing mich etwas mehr in die Pilzkunde einzuarbeiten (und das ist leider -da ich erst spät entdeckte, was für ein fantastisches "Gebiet" die Pilze sind- noch nicht lange her), begann ich mich in die Systematik einzuarbeiten. Schon bald merkte ich, dass hier erhebliche "Differenzen" bestehen. Mir kam es so vor, als ob jeder Autor hier etwas anders vorgeht, was wenig zu einer klaren Systematik beiträgt, gerade für den Anfänger. Ein weiteres Problem war, dass die mehr oder weniger vollständigen Systematiken derart umfangreich und für Neulinge völlig undurchschaubar sind.
Aber meine Frage: Was könnte man einem Neueinsteiger hier empfehlen? Sollte er sich einfach am Anfang an ein System halten und gibt es ein vereinfachtes, das aber brauchbar ist. Oder bleibt nur die Möglichkeit damit zu leben und sich eben durchzukämpfen?
Grüsse
Thomas.